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Herman Kahn

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Herman Kahn, 1965
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Herman Kahn, 1965

Herman Kahn (* 15. Februar 1922 in Bayonne, New Jersey; † 7. Juli 1983 in Chappaqua, New York) war ein US-amerikanischer Stratege, Kybernetiker und Futurologe.

Inhaltsverzeichnis

[Bearbeiten] Frühe Jahre

Kahn wuchs im Stadtteil Bronx von New York City auf. Nach der Scheidung seiner Eltern zog er nach Los Angeles um und immatrikulierte sich an der Universität von Kalifornien, Los Angeles (UCLA), wo sein Hauptfach Physik war. Der als "menschlicher Computer" beschriebene Kahn erzielte im standardisierten Intelligenztest der US-Armee über 200 Punkte, das höchste bekannte Ergebnis in der Geschichte dieses Tests. Im Zweiten Weltkrieg trat er in die Armee ein und wurde als Telefonoperator in Birma stationiert.

Im Jahr 1945 nahm er sein Studium wieder auf. Er bekam seinen Bachelor-Abschluss an der UCLA und beabsichtigte eine Promotion im Fach Physik an dem California Institute of Technology (Cal Tech). Indes musste er sein Studium wegen finanzieller Schwierigkeiten mit einem Master-Grad beenden. Zunächst versuchte er Immobilienmakler zu werden, war aber kaum begeistert davon. Bald erhielt er eine Stelle bei der RAND-Corporation (Research And Development, wörtlich "Forschung und Entwicklung"), dem seinerzeit führenden strategischen Think tank.

Beim Lawrence Livermore National Laboratory in Nordkalifornien wirkte Kahn in enger Zusammenarbeit mit Physikern wie Edward Teller, John von Neumann, Hans Bethe und dem Mathematiker Albert Wohlstetter an der Entwicklung der Wasserstoffbombe mit.

[Bearbeiten] Der Kalte Krieg

Kahns wichtigste wissenschaftliche Beiträge waren die von ihm zum Kalten Krieg entwickelten Theorien, in denen er "das Unvorstellbare" zu überlegen wagte. Unvorstellbar war vor allem der Atomkrieg; Kahn wollte die sogenannte Spieltheorie darauf anwenden. Bis 1954 hatte die vorherrschende Nuklearstrategie der US-Regierung unter Eisenhower aus einem "massivem Gegenschlag" ("massive retaliation") bestanden, den der kriegerische und einflussreiche US-Außenminister John Foster Dulles befürwortet hatte. Nach dieser Theorie, als "New Look" bezeichnet, bedrohte die viel größere Rote Armee der UdSSR die Amerikaner und ihre strategischen Interessen überall auf der Welt. Die potentiellen Schlachtfelder waren zu zahlreich, als dass die USA die Angriffe der Sowjets gleichzeitig überall wirkungsvoll kontern könnten. Wegen dieses Nachteils hatten die USA keine andere Wahl. Sie mussten kundtun, dass ihre Reaktion auf irgendeine sowjetische Aggression irgendwo auf der Welt ein Nuklearangriff wäre: ein Präventivschlag.

Kahn glaubte, dass diese Theorie unvertretbar sei, nicht pazifistischer Ideale wegen (die er nicht hatte), sondern weil die Theorie primitiv und möglicherweise entstabilisierend sei. Der "New Look" könne die Sowjets dazu verleiten, ihre kleineren militärischen Aktivitäten (z. B. in Afrika oder Südasien) mit einem großen Luftangriff gegen die Bomberstützpunkte der Amerikaner einzuleiten. Ein solcher Schritt würde die amerikanische nukleare Bedrohung sofort beseitigen und die USA dazu zwingen, den unerwünschten herkömmlichen Bodenkrieg zu führen, worauf die Amerikaner nicht vorbereitet seien.

Ende der 1950er Jahre wuchsen die Spannungen des Kalten Krieges. 1957 hatte die Sowjetunion ihren Sputnik erfolgreich gestartet. Durch den dadurch ausgelösten Sputnik-Schock gerieten viele Amerikaner in Panik, dass ihr Land den Wettlauf ins All ("Space Race") verlieren könnte, und es wurde großer Druck auf die Wissenschaftler ausgeübt, die Entwicklungen zu beschleunigen. Man sprach von einer sich verbreiternden "Raketenlücke" ("missile gap") zwischen den USA und der Sowjetunion. 1959 veröffentlichte Kahn sein Buch On Thermonuclear War (Über den Nuklearkrieg). Der Titel war eine deutliche Anspielung auf die klassische, bahnbrechende Abhandlung des 18. Jahrhunderts, Über den Krieg des deutschen Strategen Carl von Clausewitz. Kahn gründete seine Theorie auf zwei heftig umstrittene Prämissen: Erstens, dass ein Nuklearkrieg zweckmäßig und durchführbar sei, zweitens, dass er gewonnen werden könne. Auch wenn Hunderte von Millionen Menschen sterben oder "nur" mehrere Großstädte zerstört werden würden, behauptete Kahn, würde das Leben trotzdem weitergehen.

Mit dieser Meinung stieß er auf überwältigende Kritik. Er argumentierte aber unbeirrt, dass es nicht nur scheinheilig sei, diese Diskussion nicht führen zu wollen, sondern sogar dem offiziellen Standpunkt im Kalten Krieg schade. Wenn das Volk nämlich nicht bereit sei, der Gefahr ins Auge zu sehen, die ein Atomkrieg mit sich bringe und ihn grundsätzlich ablehne, nähme man dem Drohszenario der USA gegenüber der UdSSR die Glaubwürdigkeit, da diese annehmen könnten, die USA seien nicht bereit, im Ernstfall mit einem Erstschlag zu antworten. Dann sei alle militärische Machtdemonstration nur ein Bluff, der spieltheoretisch durchschaubar und damit unwirksam sei. In Anbetracht der nuklearen Aufrüstung des Gegners müssten die USA ihr Bedrohungsszenario aber nicht nur glaubwürdig präsentieren, sondern sogar noch ausbauen: die sogenannte Zweitschlagskapazität, also die Möglichkeit, selbst nach einem verheerenden atomaren Angriff noch zurückschlagen zu können und die UdSSR zu vernichten, sei unverzichtbar. Dies war der Grundgedanke der mutual assured destruction (MAD), in der beide Seiten die Möglichkeit besitzen, die andere selbst nach einem überraschenden Erstschlag noch zu vernichten und somit jeden Angriff völlig sinnlos erscheinen zu lassen. Dabei dürften aber die konventionellen Streitkräfte nicht vernachlässigt werden, damit beim Auftreten kleinerer Konflikte diese noch auf traditionelle Weise ausgefochten werden könnten, ohne direkt auf Atomwaffen zurückgreifen zu müssen.

[Bearbeiten] Nachdenken über das Unvorstellbare

Interessanterweise bewunderten und priesen einige Pazifisten wie A. J. Muste und Bertrand Russell Kahns Theorien. Sie glaubten, diese stellten ein starkes Argument für die totale Abrüstung dar, indem sie unterstellten, dass ein Atomkrieg so gut wie unvermeidbar sei. Andere kritisierten Kahn heftig, indem sie darauf hinwiesen, dass die Idee eines siegreichen Atomkrieges diesen umso wahrscheinlicher machen würde. Weil er sich nicht scheute, die grausamsten Möglichkeiten zu äußern, betrachteten viele Kritiker Kahn als Scheusal, obwohl er im Privatleben als liebenswürdiger Mensch bekannt war. Im Vergleich zu den meisten Strategen war Kahn bereit, sich eine Welt nach dem Atomkrieg vorzustellen. Die üblichen Einwände störten ihn nicht. Der radioaktive Niederschlag war für ihn zum Beispiel nur eine der vielen Unannehmlichkeiten und Unbequemlichkeiten im Leben. Selbst der Anstieg der Geburtsschäden würde die Menschheit nicht zum Aussterben verurteilen, weil bei jedem Atomschlag die Mehrheit der Überlebenden nicht beeinträchtigt würde. Kontaminierte Lebensmittel könnte man ausdrücklich für den Verzehr durch alte Menschen bestimmen, weil diese voraussichtlich sowieso vorher sterben würden, bevor der durch Radioaktivität verursachte Krebs ausbräche. Selbst ein Mindestmaß an bescheidenen Vorbereitungen, nämlich Schutzräume gegen radioaktiven Niederschlag, Evakuierungssplanspiele und Zivilverteidigungs-Übungen - heute als symptomatisch für die paranoiden 1950er Jahre angesehen - würden die Bevölkerung zum Wiederaufbau anspornen. Weiterhin wäre ein gutes Zivilverteidigungsprogramm ein zusätzliches Abschreckungsmittel, weil es den Kräften der anderen Seite die zerstörerische Wirkung erschweren und so den Anreiz, Atomwaffen einzusetzen, dämpfen würde. Dem gesamten europäischen Kontinent den gewaltigen atomaren Gegenschlag zu ersparen, wie er vor der MAD-Doktrin wahrscheinlich war, argumentierte Kahn, wäre es wert, solche Überlegungen zu akzeptieren.

[Bearbeiten] Das Hudson Institute

1961 gründeten Kahn, Max Singer und Oscar Ruebhausen das Hudson Institute. Es war eine Organisation für Politikforschung in Croton-on-Hudson (US-Bundesstaat New York). Diese Intellektuellen forderten ausdrücklich den Pessimus von linksorientieren Gruppen wie dem Club of Rome heraus. Das Hudson-Institute lud Koryphäen ein, wie den Soziologen Daniel Bell, den französischen Philosophen Raymond Aron und den Schriftsteller Ralph Ellison, der 1952 den bahnbrechenden Roman Der unsichtbare Mann geschrieben hatte. Die starken und empörten Gegenstimmen trafen Kahn und brachten ihn dazu, seine Haltung oder zumindest seinen Ton zu ändern. Antworten an seine Kritiker, wie in seinem neuen Buch, Thinking About the Unthinkable (Das Undenkbare denken) (1962), fielen weniger scharf aus als früher. Drei Jahre später veröffentlichte er ein neues Werk über militärische Strategie, On Escalation. Von 1966 bis 1968 diente Kahn dem US-amerikanischen Verteidigungsministerium als Berater. Dem zunehmenden Druck aus der Bevölkerung nach direkten Verhandlungen mit Nordvietnam trat er mit der Auffassung entgegen, die einzige Lösung sei eine weitere militärische Eskalation. Er begründete dies vor allem damit, dass der Krieg ohne Strategie für einen geordneten Rückzug (exit strategy) bei unerwartet starker Gegenwehr begonnen worden war.


Angeblich war Kahn eines der Vorbilder für Dr. Seltsam im gleichnamigen Film des berühmten Regisseurs Stanley Kubrick (1964), zusammen mit Edward Teller, Henry Kissinger und Wernher von Braun. Kubrick hatte Kahns Werke ausführlich gelesen und bestand darauf, dass der Produzent des Films sie auch lesen sollte. Kubrick lernte Kahn persönlich kennen, und Kahn gab Kubrick die Idee für die "Doomsday-Maschine" (doomsday, wörtlich das Jüngste Gericht, hier im Sinne des Weltuntergangs), eine Erfindung, die den ganzen Planeten einem Nuklearangriff zufolge sofort zerstören würde. Im Film erwähnt der US-Präsident einen von der "BLAND Corporation" verfassten Bericht über die Doomsday-Maschine. In der Tat war die Doomsday-Maschine der Inbegriff jener destabilisierenden Taktik, die Kahn selber vermeiden wollte, weil ihr einziger Zweck nicht militärisch, sondern nur eine Bedrohung oder ein Bluff war. Kahn war auch das Vorbild für Walter Matthaus Rolle in Fail-Safe.

[Bearbeiten] Spätere Jahre

Nach der Entspannung zwischen den Supermächten Anfang der 1970er Jahre beschäftigte Kahn sich mit dem Futurismus, welcher oftmals irgendeine Art vom Weltuntergang voraussah. Kahn und das Hudson Institute standen relativ rechts in der Politik und versuchten, populäre apokalyptische Essays wie "Die Bevölkerungsbombe" von Paul Ehrlich, Die Grenzen des Wachstums des Club of Rome, oder The Tragedy of the Commons von Garrett Hardin zu widerlegen. Nach Kahns Ansicht bieten der Kapitalismus und die Technik unbegrenzte Fortschrittsmöglichkeiten; er glaubte, die Kolonisierung des Weltalls stünde kurz bevor. Am Ende des Jahrzehnts bewegte Kahn sich weiter politisch nach rechts. Er schrieb zustimmend über die Politik von Ronald Reagan und verspottete Jonathan Schell, der behauptet hatte, die langfristigen Konsequenzen eines Nuklearkrieges würden die Menschheit zerstören. Kahns Buch Die nächsten 200 Jahre stellte ein optimistisches Bild der wirtschaftlichen Lage im Jahre 2176 dar. Er schrieb auch mehrere Bücher über die Systemtheorie und über die Zukunft der amerikanischen, japanischen und australischen Volkswirtschaften.

Kahn, der lebenslang sehr fettleibig gewesen war, starb 1983 an einem plötzlichen Schlaganfall.

[Bearbeiten] Quellen

  • Fred Kaplan, The Wizards of Armageddon, (Stanford Nuclear Age Series), ISBN 0804718849
  • Louis Menand, "Fat Man: Herman Kahn and the Nuclear Age," The New Yorker, June 27, 2005
  • Sharon Ghamari-Tabrizi, The Worlds of Herman Kahn : The Intuitive Science of Thermonuclear War, (Harvard University Press), ISBN 0674017145
  • Herman Kahn, Jerome Agel Herman Kahnsciousness;: The megaton ideas of the one-man think tank, (New American Library)
  • B Bruce-Briggs, Supergenius: The mega-worlds of Herman Kahn, (North American Policy Press)
  • Kate Lenkowsky, The Herman Kahn Center of the Hudson Institute, (Hudson Institute)
  • Herman Kahn, The Coming Boom: Economic, Political, and Social, (Simon & Schuster), ISBN 0671492659
  • ---- The Next 200 Years, (Morrow), ISBN 0688080294
  • ---- The Japanese challenge: The success and failure of economic success, (Morrow), ISBN 0688087108
  • ---- Things to Come: Thinking About the Seventies and Eighties, (MacMillan), ISBN 0025604708
  • ---- World Economic Development: 1979 and Beyond, (William Morrow), ISBN 0688034799
  • ---- Will she be right?: The future of Australia, (University of Queensland Press), ISBN 0702215694
  • ---- The Year 2000: A Framework for Speculation on the Next Thirty-Three Years, (MacMillan), ISBN 0025604406
  • ---- Emerging Japanese Superstate : Challenge and Response, (Prentice Hall), ISBN 0132746700
  • ---- The nature and feasibility of war, deterrence, and arms control (Central nuclear war monograph series), (Hudson Institute)
  • ---- A slightly optimistic world context for 1975-2000 (Hudson Institute. HI)
  • ---- Social limits to growth: "creeping stagnation" vs. "natural and inevitable" (HPS paper)
  • ---- A new kind of class struggle in the United States? (Corporate Environment Program. Research memorandum)
  • Herbert I. London, forward by Herman Kahn, Why Are They Lying to Our Children. (Against the doomsayer futurists.), ISBN 0967351421

[Bearbeiten] Literatur

  • Karl-Heinz Steinmüller: Der Mann, der das Undenkbare dachte. Herman Kahn und die Geburt der Futurologie aus dem Geist des Kalten Krieges. In: Kursbuch 164/2006, S. 99–103.

[Bearbeiten] Weblinks

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