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Gottesmord

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Der Begriff Gottesmord (seltener auch: Christusmord) bezeichnet ein zentrales Motiv des christlichen Antijudaismus. Er gibt dem Judentum eine Kollektivschuld an der Kreuzigung Jesu von Nazarets, überhöht diese zu einer unvergebbaren Sünde und leitet daraus eine fundamentale Abwertung und Ausgrenzung („Verwerfung") aller Juden ab.

Diese religiöse Diskriminierung ging mit dem Aufstieg des Christentums zur Staatsreligion des Römischen Reiches einher und diente später vielfach dazu, die Unterdrückung, Bedrohung und Verfolgung der jüdischen Minderheit zu begründen und zu rechtfertigen. Das in der Volksfrömmigkeit immer neu befestigte und verankerte Motiv trug wesentlich dazu bei, dass Judenfeindlichkeit in verschiedenen Formen nahezu 1800 Jahre lang ein „kulturelles Grundmuster" (Stefan Rohrbacher) der Geschichte Europas werden konnte und damit schließlich den Holocaust an den europäischen Juden mit ermöglichte.

Inhaltsverzeichnis

[Bearbeiten] Neues Testament

Das Neue Testament (NT) kennt das antijudaistische Gottesmordmotiv noch nicht, sondern spricht meist differenziert von verschiedenen Gruppen, die gemeinsam Jesu Tod verursachten. Die Apostel-Predigten in der Anfangszeit des Urchristentums reden die Jerusalemer Juden als Täter an:

Ihn, der durch Gottes Ratschluss und Vorsehung dahingegeben wurde, habt ihr durch die Hand der Heiden ans Kreuz geschlagen und getötet. (Apg 2,23EU)
Den Fürsten des Lebens habt ihr getötet. (Apg 3,15EU)
Der Gott unserer Väter hat Jesus auferweckt, den ihr an das Holz gehängt und getötet habt. (Apg 5,30EU)

Zugleich bekräftigen sie, dass den Tätern Jesu Identität mit Gott nicht bewusst war:

Nun, liebe Brüder, ich weiß, dass ihr es aus Unwissenheit getan habt wie auch eure Obersten. (Apg 3,17EU)

Diese Aussagen sind integraler Bestandteil der Verkündigung des Evangeliums für Gottes erwähltes Volk Israel, um diesem mit der Botschaft der Auferstehung Jesu Christi, des Messias aller Menschen, als Ersten Vergebung aller Sünden anzubieten und eine umfassende neue Lebenschance zu eröffnen.

Dabei wies die urchristliche Missionspredigt die historische Verantwortung für Jesu Tod wie die Evangelien (Mk 10,33EU; Mk 14,64EU u.a.) primär dem Sanhedrin zu, der Jesus verurteilte und an Pontius Pilatus auslieferte, sowie den Bewohnern Jerusalems, die seine Kreuzigung forderten, sekundär auch den Heiden, die die Hinrichtung ausführten:

Denn die zu Jerusalem wohnen und ihre Obersten haben, weil sie Jesus nicht erkannten, mit ihrem Urteilsspruch die Worte der Propheten, die an jedem Sabbat verlesen werden, erfüllt. Und obwohl sie nichts an ihm fanden, das den Tod verdient hätte, baten sie doch Pilatus, ihn zu töten. (Apg 13,27EU)

Das stellt die Unschuld des Opfers und das Unrecht der Täter heraus, ohne sie zu verurteilen: Denn so seien sie Werkzeug des lange vorher in der Schrift angekündigten Willens Gottes geworden. Für die Urchristen konnte dieser Gotteswille nur erkannt und künftiges Unheil nur vermieden werden, indem den Tätern das geschehene Unrecht und ihr Schuldanteil daran in Erinnerung gerufen wurde. Sie wollten diese nicht verdammen, sondern retten, indem sie Jesu stellvertretende Schuldübernahme am Kreuz als Gottes vorherbestimmten Geschichtsplan verkündeten.

Die Redner bezogen sich selber in die schuldhafte Verstrickung in den Justizmord an Jesus ein: Denn sie sahen sich als Teil des erwählten Gottesvolkes, die Jesus in seinem Leiden für andere missverstanden, verlassen, verleugnet und verraten hatten und nur durch seine Lebenshingabe mit Gott versöhnt werden konnten. Deshalb konnten sie ihren Glauben nur bekennen, indem sie im Vaterunser zugleich um Vergebung für ihre eigene Schuld baten. Darum konzentrierte sich ihre narrative, Israels und Jesu Geschichte nacherzählende Missionspredigt ganz auf den Zusammenhang von Tod und Auferstehung Jesu, daraufhin erst seine praktische Auslegung der jüdischen Tora. Daraus gewannen die Urchristen Gewissheit kommender Erlösung und Kraft zur täglich neuen Umkehr (griech.: metanoia) zu Gott, der seinen Willen der Welt in Gestalt seines Sohnes letztgültig und unüberbietbar bekannt gemacht habe.

Dieser durch und durch positive Inhalt der Verkündigung getaufter an ungetaufte Juden wandelte sich im Lauf der Christentumsgeschichte zu einer neuen, theologisch untermauerten und später vielfach für Juden tödlichen Feindschaft. Dabei erhielten dieselben Worte einen entgegengesetzten, alle Juden zu satanischen Feinden Gottes stempelnden und sie auf ewig verdammenden Sinn. Das Judentum wurde ab etwa 130 zum irdischen Gegenpol und zur Negativfolie des christlichen Erlösungsglaubens fixiert. Dieser Prozess bahnte sich schon in manchen Aussagen des NT selbst an (siehe dazu: Antijudaismus im Neuen Testament). Sie stammen größtenteils von Juden selber und spiegeln innerjüdische Abgrenzungspolemik im Trennungsprozess beider Religionen, aber keine allgemeine Judenfeindschaft wieder.

Paulus von Tarsus formte die Schuldanklage von der direkten, die Hörer betreffenden und zur Umkehr einladenden Anrede zu einem beschreibenden Satz über die Mörder Jesu um, so dass die theologische als historische Aussage missverstanden werden konnte:

Die Juden haben unseren Herrn Jesus getötet und die Propheten und haben uns verfolgt und gefallen Gott nicht und sind allen Menschen Feind. (1_Thess 2,15EU)

Damit stellte er Jesu Hinrichtung in die jüdische Tradition des Prophetenmords und verknüpfte sie zugleich mit dem „Hass auf das Menschengeschlecht" (lat.: odium generis), den antike Bildungsbürger Juden häufig nachsagten. Er warf ihnen gegenüber Heidenchristen vor (v. 16a):

Und um das Maß ihrer Sünden voll zu machen, wehren sie uns, den Heiden zu predigen zu ihrem Heil.

Zugleich betonte er, dass sie schon gerichtet worden seien (v. 16b):

Aber der Zorn Gottes ist schon in vollem Maß über sie gekommen bis zum Ende.

Jesu Kreuzestod selber war für Paulus Gottes Zorngericht über Israel und die Völker, so dass Christen die unbedingte Bruderschaft mit Juden geboten und Rache an Feinden strikt verboten sei:

Rächt euch nicht selber, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben: 'Die Rache ist mein, ich werde vergelten, spricht der Herr.' (Röm 12,19EU)

Diese klare Haltung wandelte sich allmählich im Gefolge der Heidenmission der sogenannten Hellenisten unter den Urchristen, die den Jerusalemer Tempelkult anders als die Urgemeinde ablehnten und mit Jesu Kreuzigung für beendet erklärten. So hieß es in der Predigt des Stefanus):

Ihr Halsstarrigen und Unbeschnittenen an Herzen und Ohren! Ihr widerstrebt allzeit dem Heiligen Geist, wie Eure Väter so auch ihr. Welchen Propheten haben eure Väter nicht verfolgt? Und sie haben getötet, die da zuvor verkündeten das Kommen des Gerechten, dessen Verräter und Mörder ihr nun geworden seid. (Apg 7,52EU)

Damit redete Stefanus die Sadduzäer an. Seine Polemik entsprach bis in die Wortwahl hinein der scharfen Kritik jüdischer Propheten am Götzendienst Israels. Auch Jeremia hatte mit solcher Predigt sein Leben riskiert.

Die bereits vollzogene Trennung von Juden und Christen spiegelt sich im Johannesevangelium: Anders als die älteren synoptischen Evangelien spricht es häufig von den Juden als Vertretern des gottfeindlichen Äons, der mit Jesu Kreuzestod und Auferstehung überwunden worden sei. Demgemäß stellt es sie, ohne zwischen Volk und Führung zu unterscheiden, als die da, die Pilatus erpresserisch dazu drängten, Jesus hinzurichten (Joh 19,12EU).

Zur antijudaistischen Umformung der Schuldanklage wurde besonders Mt 27,25EU herangezogen: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder! Damit übernahm die jüdische Menge aus Sicht des Matthäus die Folgen eines Unrechtsurteils des Pilatus gegen Jesus. Dies entsprach dem jüdischen Glauben an die Sühne ungesühnter Sünden durch Unheil für die Folgegeneration. Demgemäß verstanden die Urchristen die Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Jüdischen Krieg (70 n.Chr.) als Strafe Gottes für die Ablehnung seines Sohnes (Mk 14,58EU; Mk 15,38EU; Lk 21,24EU).

Dies begünstigte die Substitutionstheologie, wonach Gott sein ersterwähltes Volk endgültig „verworfen“ und dessen Erwählung der Kirche übergeben habe. Diesem Missverständnis hatten die Apostel - besonders Paulus - ausdrücklich widersprochen (Röm 10,2EU). Dennoch legten christliche Theologen Mt 27,25 später immer wieder als angeblich grenzenlose, für alle Juden geltende Selbstverfluchung aus, mit der diese sich selbst dazu verdammt hätten, die unvergebbare Schuld für den Mord an Gottes Sohn zu sühnen. Damit begründeten sie fortlaufend die Unterdrückung des Judentums unter den christianisierten Völkern Europas.

[Bearbeiten] Patristik

Der fortgeschrittene Prozess dieser Verkehrung zeigt sich erstmals um 160 bei Bischof Melito von Sardes (†um 190). Er klagte die Juden in seiner - 1940 als Handschrift wiederentdeckten - Predigt Über das Passah wie folgt an:[1]

Welch schlimmes Unrecht, Israel, hast du getan? Du hast den, der dich ehrte, geschändet...Du bereitetest ihm spitze Nägel und falsche Zeugen und Fesseln und Geißeln und Essig und Galle und das Schwert und die Trübsal wie für einen Raubmörder...Getötet hast du den Herrn inmitten Jerusalems! Höret es, alle Geschlechter der Völker und sehet: Unerhörter Mord geschah inmitten Jerusalem in der Stadt des Gesetzes, der Hebräer, der Propheten, in der Stadt, die für gerecht galt!...Der die Erde aufhing, ist aufgehängt worden; der die Himmel festmachte, ist festgemacht worden; der das All befestigte, ist am Holz befestigt worden...der Gott ist getötet worden; der König Israels ist beseitigt worden von Israels Hand. Oh, welch unerhörter Mord! Oh, welch unerhörtes Unrecht!

Die Rede verschiebt die Akzente der neutestamentlichen Schuldbehaftung Israels in vierfacher Hinsicht:

  • Sie überträgt die Folterung und Hinrichtung Jesu durch die Römer - „spitze Nägel", „Geißeln", „Schwert“ - auf das Volk Israel, macht dieses also nicht nur für die Verurteilung, sondern auch die Passion und Kreuzigung Jesu verantwortlich.
  • Sie geht von der kollektiven Schuldanklage an Israel zur universalen Demonstration dieser Schuld an die Völker über.
  • Sie kontrastiert Jerusalem als „Stadt des Gesetzes" so mit dem Unrecht an Jesus, dass sie dem Anspruch des rabbinischen Judentums, die Tora als weitergeltenden Willen Gottes auszulegen und zu verkünden, den Boden entzieht.
  • Sie überhöht einen historischen Justizmord zum Mord am Schöpfer der Welt, verleiht diesem Unrecht also kosmische Dimensionen.

Hintergrund der Predigt war zum einen der frühchristliche Streit um das Osterdatum: Es fiel für Melito noch mit dem 14. Nisan, dem Hauptfesttag des jüdischen Passah, zusammen. Dies machte es für ihn umso notwendiger, die Überlegenheit der christlichen gegenüber der jüdischen Heilslehre herauszustellen. Zum anderen bahnte sich im 2. Jahrhundert der innerchristliche Streit um die zwei Naturen Jesu Christi schon an: Für die sich später durchsetzende orthodoxe Linie war der Mensch Jesus unmittelbar identisch mit dem der Welt zugewandten Wesen Gottes, so dass alles, was Menschen ihm antaten, gegen Gott selbst gerichtet war. Auch für die Theologen, die stärker die Selbstständigkeit der menschlichen Natur Jesu gegenüber Gott betonten, war sein Sterben menschliche Sünde gegen Gott, die aber Gottes Wesen nicht angreifen könne. Ihnen erschien die Rede vom „Mord an Gott" wie eine Gotteslästerung, da Gottes Wesen unsterblich sei. Erst mit dem 1. Konzil von Nicäa 325 wurde dieser Streit entschieden.

Melito überhöhte Jesu Tod zum Mord an Gott aber nicht, um in dem innerchristlichen Streit Stellung zu beziehen, sondern um die religiöse „Enterbung" des Judentums als biblisch erwähltes Volk Gottes durch die Kirche zu begründen. Für diese Ersatztheologie war der Gottesmord-Vorwurf gegen das Judentum zentraler Dreh- und Angelpunkt. Daher griffen sämtliche frühen Kirchenväter ihn auf und entfalteten ihn theologisch. Origenes z.B. widersprach Paulus mit den Worten:[2]:

Das Blut Jesu haftet nicht nur an jenen, die Jesu Zeitgenossen waren, sondern fürwahr an allen künftigen jüdischen Geschlechtern bis ans Ende der Zeiten.

Hieronymus (Adversos Iudaeos, um 400) identifizierte den Messias, den die Juden nach Jesus weiter erwarteten, mit dem Antichrist und erklärte aus dem Gottesmord das gegenwärtige Elend der seit der Tempelzerstörung in der Welt zerstreuten Juden:[3]

Welches Verbrechens, welches fluchwürdigen Vergehens wegen hat Gott seine Augen von euch abgewandt? Wisst ihr es nicht? Denkt an das Wort eurer Väter: „Sein Blut komme über uns und unsre Kinder!" [Mt 27,25] „Kommt, lasst uns ihn töten, und unser wird das Erbe sein!" [Mk 12,7] „Wir haben keinen König außer dem Kaiser!" [Joh 19,15] Nun habt ihr, was ihr gewählt habt. Bis zum Ende der Welt werdet ihr dem Kaiser dienen, bis die Fülle der Heiden sich bekehrt. Dann wird auch ganz Israel gerettet werden [Röm 11,25f], aber was einst Kopf wart, wird jetzt zum Schwanz werden.}}

Er legte die Selbstverfluchung der Zeitgenossen Jesu also als weiterwirkenden ewigen Fluch über das Judentum aus und rechtfertigte damit die aktuelle und dauernde Unterdrückung der Juden im römischen Kaiserreich. Ihre jenseitige Errettung machte er vom Erfolg der christlichen Völkermission abhängig, die zugleich den Antijudaismus globalisieren sollte. Auch Johannes Chrysostomos, Eusebius von Caesarea und Augustinus vertraten ähnliche Ansichten.

In der Spätantike des 5. Jahrhundert wurde der Gottesmord ein häufig erwähntes Stereotyp in der theologischen Adversos-Iudaeos-Literatur, etwa bei Tiro von Aquitanien († um 455), und Cassiodor († um 583). Papst Leo der Große († 461) bildete damals bereits eine sehr seltene Ausnahme: Er zitierte in seinen Passionspredigten nicht nur die Selbstverfluchung Mt 27,25, sondern auch die Vergebung Jesu für seine Mörder (Lk 23,34), bezog diese also auch auf das Judentum.

Die Beteiligung der Römer am Tod Jesu wurde sonst kaum noch erwähnt und in ihren Folgen für das Verhältnis der Kirche zum Staat nicht mehr bedacht. Stattdessen wurde die Situation des Judentums als einer unterlegenen, bedrückten und ständig bedrohten Minderheit im Raum des Christentums mit seiner unvergebbaren Tat gerechtfertigt und verewigt.

[Bearbeiten] Frühmittelalter

Der zum theologischen Dogma verfestigte Gottesmord-Vorwurf wanderte von der Patristik in das Frühmittelalter ein. Dort war er eine nicht mehr hinterfragte Tatsache für die christliche Theologie. Erzbischof Agobard von Lyon (†840) z.B. legte den Juden in seinen um 825 verfassten antijüdischen Polemiken zahlreiche Verbrechen zur Last. Er setzte - wie Johannes Chrysostomos 400 Jahre zuvor - einen kriminellen Charakter aller Juden voraus, den er auf ihren Gottesmord zurückführte. Diesen Vorwurf führte er als Faktum an, ohne es näher zu begründen.

Auch Hrabanus Maurus (†856), Erzbischof von Mainz, und Petrus Damiani (†1072) sprachen von Juden allgemein nur als „verruchtem Volk" und „Christusmördern". Dabei waren sie - anders als Agobard - keineswegs fanatische Judenfeinde. Dies traf jedoch auf den Benediktiner-Abt Rupert von Deutz (†1129) zu, der um 1120 ein fiktives Streitgespräch zwischen einem Christen und einem Juden verfasste. Hier schlug die übliche Verwerfung des Judentums in akute Bedrohung um, wie sie das Zeitalter der Kreuzzüge kennzeichnete.

[Bearbeiten] Abkehr vom Gottesmord-Dogma

Hauptartikel: Kirchen und Judentum nach 1945

Ein Bewusstsein für die besondere kirchliche Mitschuld an der Judenvernichtung setzte nach 1945 nur ganz allmählich ein. In den ersten Schulderklärungen der Nachkriegszeit war weder vom Holocaust noch von Antijudaismus und Antisemitismus die Rede. Vielmehr setzte sich die Gottesmord- und Substitutionstheologie zunächst ungebrochen fort. So hieß es in dem „Wort zur Judenfrage" der EKD von 1948:

Indem Israel den Messias kreuzigte, hat es seine Erwählung verworfen. [...] Die Erwählung Israels ist durch und seit Christus auf die Kirche aus allen Völkern, aus Juden und Heiden übergegangen.

Zwar hieß es außerdem, alle Menschen seien am Tod Christi mitschuldig, so dass Christen Juden nicht als Alleinschuldige brandmarken dürften. Doch es folgten Sätze, die das bestehende Judentum nur als Zeugen des Gerichtes Gottes und den Holocaust als Zeichen seiner „Geduld" deuteten:

Dass Gottes Gericht Israel in der Verwerfung bis heute nachfolgt, ist Zeichen seiner Langmut. [...] Dass Gott nicht mit sich spotten lässt, ist die stumme Predigt des jüdischen Schicksals, uns zur Warnung, den Juden zur Mahnung, ob sie sich nicht bekehren möchten zu dem, bei dem allein auch ihr Heil steht.

Zwei Jahre später verabschiedete die Synode von Weißensee unter dem Eindruck neuer antisemitischer Ausschreitungen jedoch eine Erklärung, die von diesen problematischen Thesen abrückte:

Wir glauben, dass Gottes Verheißung über dem von ihm erwählten Volk Israel auch nach der Kreuzigung Jesu Christi in Kraft geblieben ist.

Damit widerrief eine offizielle kirchliche Stellungnahme der EKD erstmals die aus dem Gottesmord abgeleitete Fluchtheorie. Doch der Folgepassus zeigte die Schwierigkeiten der Beteiligten, eine kirchliche Mitschuld zu benennen. Stattdessen hieß es dort:

Wir bekennen uns zu der Schuld der Deutschen, die vor dem Gott der Barmherzigkeit durch den Massenmord an den Juden handelnd oder schweigend schuldig geworden sind.

Dennoch bahnte sich nun in den Großkirchen, vor allem beeinflusst vom Jüdisch-christlichen Dialog, unaufhaltsam eine Revision der antijudaistischen Dogmen an. Dies zeigt im katholischen Bereich die Denkschrift Nostra Aetate von 1965. Darin vertrat der Vatikan erstmals als gesamtkatholische Lehre:

Obgleich die jüdischen Obrigkeiten mit ihren Anhängern auf den Tod Christi gedrungen haben, kann man dennoch die Ereignisse seines Leidens weder allen damals lebenden Juden ohne Unterschied noch den heutigen Juden zur Last legen. [...] Auch hat ja Christus, wie die Kirche immer gelehrt hat und lehrt, in Freiheit, um der Sünden aller Menschen willen, sein Leiden und seinen Tod aus unendlicher Liebe auf sich genommen, damit alle das Heil erlangen. So ist es die Aufgabe der Predigt der Kirche, das Kreuz Christi als Zeichen der universalen Liebe Gottes und als Quelle aller Gnaden zu verkünden.

Die Denkschrift schwieg jedoch weiterhin zu den Kirchenlehrern, die den Gottesmord jahrhundertelang gelehrt und damit dem Antisemitismus ein wesentliches Argument geliefert hatten. Sie lehnte diese Folgen nur allgemein, nicht konkret auf kirchliche Mitschuld bezogen ab und zeigte eine apologetische Tendenz:

Im Bewusstsein des Erbes, das sie mit den Juden gemeinsam hat, beklagt die Kirche, die alle Verfolgungen gegen irgendwelche Menschen verwirft, nicht aus politischen Gründen, sondern auf Antrieb der religiösen Liebe des Evangeliums alle Hassausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und von irgend jemandem gegen die Juden gerichtet haben.

Im evangelischen Bereich wurde der Synodalbeschluss der Rheinischen Landeskirche von 1980 wegweisend für eine entschiedene, kirchliche Dogmen revidierende und kirchliche Mitschuld benennende Abkehr vom Antijudaismus.

[Bearbeiten] Siehe auch

[Bearbeiten] Literatur

  • Stefan Rohrbacher, Michael Schmidt: Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile. Rowohlt, Reinbek 1991, ISBN 3-499-55498-4 (S. 218-241: Kreuzestod und Gottesmord.)
  • Heinz Schreckenberg: Die christlichen Adversus Iudaeos-Texte und ihr literarisches und historisches Umfeld (1.-11. Jahrhundert). Peter Lang GmbH, Europäischer Verlag der Wissenschaften, Februar 1999, ISBN 3631339453

[Bearbeiten] Weblinks

Andere Sprachen

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