Bevölkerungsrückgang
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Bevölkerungsrückgang ist die Form der Bevölkerungsentwicklung, bei der die Geburtenrate niedriger liegt als die Sterberate und/oder bei der die Abwanderung höher ist als die Zuwanderung. Er wird in der Demografie statistisch untersucht. Insbesondere der natürliche Bevölkerungsrückgang, also der Einfluss von Geburten- und Sterberate, ist einerseits das malthusianistisch betrachtete Resultat einer übermäßigen Bevölkerungszunahme und andererseits eine Erscheinung der postmodernen Industriegesellschaft.
Der Bevölkerungsrückgang in der spätmodernen Industriegesellschaft tritt besonders seit den 1990er Jahren in Erscheinung. So gab es im Jahre 2003 schon einige Industrieländer mit nennenswertem Bevölkerungsrückgang, wie zum Beispiel Bulgarien, Italien, Russland, die Ukraine oder Ungarn. In Zukunft werden weitere Industriestaaten mit diesem Umstand konfrontiert sein. Der natürliche Bevölkerungsrückgang in einigen wenigen Entwicklungsländern, die zuvor sehr hohe Zuwachsraten verzeichneten, wie zum Beispiel Botswana (-0.55% im Jahre 2003), Simbabwe oder Südafrika, lässt sich hingegen nur auf die AIDS-Epidemie zurückführen.
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[Bearbeiten] Situation in den Industriestaaten
Ausgewählte Staaten (Stand 2006) |
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Staat | Geburten/Frau | |
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Optimum | 2,1 | |
USA | 2,09 | |
Irland | 1,86 | |
Frankreich | 1,84 | |
Schweden | 1,66 | |
Estland | 1,4 | |
Deutschland | 1,39 | |
Österreich | 1,36 | |
Polen | 1,25 | |
Quelle: cia.gov u. a. |
In den entwickelten Industrienationen, insbesondere in Europa, ist schon seit der Einführung der Anti-Baby-Pille Ende der 1960er Jahre ein natürlicher Bevölkerungsrückgang zu verzeichnen (Pillenknick), der jedoch durch die Einwanderung bisher mehr als ausgeglichen werden konnte. Die langfristig abnehmende Fertilitätsrate führt jedoch nicht nur zur Relativierung dieses Wanderungsüberschusses, sondern auch zu sozialpolitischen Problemen, vor denen Demographen schon lange gewarnt hatten.
Zum einen ist die Infrastruktur der Industriestaaten eher auf Wachstum als auf Schrumpfung ausgelegt; die Folgen sind leerstehende Häuser, vor allem renovierungsbedürftige Altbauten, die oft erhaltenswert wären, der Wegfall von Verbindungen des öffentlichen Nahverkehrs oder die Schließung von Dorfsupermärkten.
Zum anderen sind die Sozialsysteme, darunter das Rentensystem und die Gesundheitsversorgung der meisten industrialisierten Staaten so aufgebaut, dass jetzige Beitragszahler für jetzige Rentenempfänger bezahlen müssen (Generationenvertrag). Die Folge ist, dass weniger Beitragszahler für mehr Empfänger bezahlen müssen, wodurch wahlweise die Beiträge steigen oder die Leistungen sinken. Die Umstellung auf alternative Systeme, wie eine anlagegestützte Selbstversorgung für die eigene spätere Rente, wird zwar teilweise durchgeführt, ist aber schwer komplett umsetzbar und ändert nichts am Problem, dass immer weniger Leute arbeiten und immer mehr Menschen in Ruhestand gehen werden (siehe auch Mackenroth-These). Statt Rentenabsenkungen hätte man vermutlich später einen inflationären Effekt, da mehr Menschen ihre Einlagen auszahlen lassen, als junge Menschen neue anlegen.
Eine weitere Folge des Bevölkerungsrückgangs ist die Umwandlung der Alterspyramide hin zu einer Form, die als Urne bezeichnet wird: Eine Bevölkerungsstruktur mit wenigen Kindern und jungen Menschen, aber mit vielen alten Menschen; die Kurve fällt dann erst im hohen Alter wieder ab. Dies hat auch soziale Folgen: Die Gesellschaft „überaltert“ und wird kinderarm, Schulen und Kindergärten werden geschlossen. Gleichzeitig steigt der Bedarf an Pflegepersonal.
In manchen Fällen ist auch zu beobachten, dass die Gesellschaft kinderfeindlicher wird oder sich zumindest von Kindern entfremdet. Der letzte Umstand ist jedoch keineswegs auf den natürlichen Bevölkerungsrückgang zurückzuführen, sondern auf gesellschaftliche Veränderungen, die gleichzeitig zu den Ursachen des Bevölkerungsrückganges gehören. Dazu gehört vor allem die Wandlung der gesellschaftlichen Stellung der Frau von einer für Haushalt und Kinder zuständigen Person hin zu einer berufstätigen Person, die ihre Bedürfnisse, also den Kinderwunsch, auch dementsprechend umstellt.
Als Folge dieser Entwicklung wurde und wird vielfach eine konsequente Bevölkerungspolitik gefordert, um den Bevölkerungsrückgang aufzuhalten oder zumindest zu bremsen. Konsequent durchgeführt wird eine solche Politik bislang nur in wenigen Ländern, vor allem in Frankreich. Die dabei verwendeten Instrumente fallen nach deutschen Begrifflichkeiten meist in das Gebiet der Familienpolitik. In Deutschland wurde Familienpolitik bislang hauptsächlich als Sozialpolitik verstanden; erst in jüngster Zeit wurde mit dem für 2007 geplanten Elterngeld erstmals eine Maßnahme im Wesentlichen bevölkerungspolitisch begründet (Reduzierung der Kinderlosigkeit bei berufstätigen, insb. gutverdienenden Frauen).
Insgesamt werden Kinder bislang jedoch eher als Privatsache verstanden. Die mit ihnen verbundenen Kosten werden zu etwa 90% von ihren Eltern aufgebracht. Dazu zählen neben dem Lebensunterhalt insbesondere die Betreuungs- und Erziehungskosten, die meist von den Müttern getragen werden und also so genannte Opportunitätskosten wirtschaftlich um so stärker zu Buche schlagen, je besser diese ausgebildet sind: denn desto stärker fällt der Einkommensrückgang aus, wenn die Mutter nicht mehr voll erwerbstätig ist.
Häufig kritisiert wird außerdem, dass die Sozialsysteme der meisten Länder umgekehrt die aus Kindern erwachsenden wirtschaftlichen Vorteile sozialisieren: die von den Kindern nach Eintritt ins Erwerbsleben gezahlten Steuern und Sozialbeiträge kommen, wenn die Elterngeneration altersbedingt auf Versorgung angewiesen ist, nicht nur Eltern, sondern auch Nicht-Eltern zugute. Diese werden zum Teil (insbes. in der Rentenversicherung) sogar besser gestellt als Eltern. Kritiker sprechen insoweit von „Transferausbeutung“ der Eltern bzw. Familien.
Der Bevölkerungsrückgang stellt zweifellos ein soziales Problem dar. Erst langsam rücken außerdem die damit möglicherweise verbundenen volkswirtschaftlichen Aspekte in den Fokus wissenschaftlicher Betrachtungen: befürchtet wird, das steigende Durchschnittsalter der erwerbsfähigen Bevölkerung werde über die Leistungs- und Innovationsfähigkeit auch das Wirtschaftswachstum negativ beeinflussen. Schätzungen der OECD zufolge kostet der demographische Wandel z.B. Deutschland bereits heute ein halbes Prozent Wirtschaftswachstum pro Jahr, wobei der eigentliche demographische Wandel erst noch bevorsteht (derzeit stehen noch die geburtenstarken Jahrgänge der 60er im besten Erwerbsalter).
[Bearbeiten] Situation in den Entwicklungsländern
Wie erwähnt, sind derzeit nur wenige unterentwickelte Länder von einem Bevölkerungsrückgang betroffen, und zwar die Staaten, die mit dem AIDS-Problem konfrontiert sind. Allerdings wird auch ein Schwellenland wie China mit über einer Milliarde Einwohner in einigen Jahren in die Phase des Bevölkerungsrückgangs eintreten, wenn sich die Fertilitätsrate von 1,8 nicht erhöht.
[Bearbeiten] Ökologische Konsequenzen
Im Sinne des globalen Umweltschutzes wird ein Bevölkerungsrückgang teilweise als erstrebenswert angesehen. Dadurch könnten evtl. die zunehmende Verschmutzung und der Ressourcenverbrauch verringert werden. Allerdings könnte die Ausdünnung von ländlichen Bereichen zum Beispiel in Ostdeutschland auch negative Konsequenzen für die Umwelt mit sich bringen. So können in bestimmten Orten aufgrund einer geringeren und meist älteren Bevölkerung viele Versorgungseinrichtungen (z.B. Läden, Schulen etc.) nicht mehr gehalten werden und die verbliebene Bevölkerung muss in den nächst zentraleren Ort fahren. Nach Ansicht vieler Experten wird das Verkehrsaufkommen in solchen Regionen stark steigen, während ein geringerer Ressourcenverbrauch (z.B. Abwasser) nicht so schnell zu erwarten ist, da die technische Infrastruktur eine notwendige Mindestauslastung aufweist (wenn z.B. nicht genügend Abwasser anfällt muss trotzdem "nachgespült" werden um die Bildung von Krankheitserregern zu verhindern) und nur langfristig angepaßt werden kann. Eine Lösung wäre die Aufgabe ganzer Ortschaften, was aber aus politischen Gründen nur in Einzelfällen durchsetzbar erscheint.
[Bearbeiten] Historisches
Bevölkerungsrückgang ohne äußere Faktoren wie Hunger / Seuchen / Krieg ist historisch eine Ausnahmeerscheinung. Bisher ist dies lediglich aus der Geschichte des Römischen Reiches bekannt. Der römische Kaiser Augustus erließ Ehegesetze, die das Problem des Bevölkerungsrückstands lösen sollten. Männer von 25 bis 60 und Frauen von 20 bis 50 Jahren hatten demnach verheiratet zu sein. Falls nicht, mussten sie Bußgelder entrichten.[1]
[Bearbeiten] Literatur
- Franz-Xaver Kaufmann: Schrumpfende Gesellschaft. Suhrkamp, 2005, ISBN 3-518-12406-4). Fachwissenschaftliche Abhandlung, die die soziologischen Folgen eines dauerhaften Bevölkerungsrückgangs thematisiert.
- Peter Mersch: Land ohne Kinder - Wege aus der demographischen Krise. BoD, Norderstedt Mai 2006, ISBN 3-8334-4922-5
- Herwig Birg: Die demographische Zeitenwende - Der Bevölkerungsrückgang in Deutschland und Europa, München 2003
[Bearbeiten] Siehe auch
- Bevölkerungsexplosion
- Demografischer Übergang
- Demografisch-Ökonomisches Paradoxon
- Entvölkerung
- Geburtenrate
- Mackenroth-These
- Rückbau
- Sterberate
- Unterjüngung
- Überalterung
- Wüstung
- Zeugungsstreik
[Bearbeiten] Quelle
- ↑ http://www.womenintheancientworld.com/augustan%20reformation.htm Die Ehegestze des Augustus (engl.)