Sondergerichtshof für Sierra Leone
aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Der Sondergerichtshof für Sierra Leone, auch Sondertribunal für Sierra Leone, (engl.: Special Court for Sierra Leone, SCSL) mit Sitz in Freetown ist ein durch einen bilateralen Vertrag zwischen Sierra Leone und den Vereinten Nationen vom 16. Januar 2002 geschaffener Ad-hoc-Strafgerichtshof. Zwei Tage später erklärte Sierra Leones Präsident Ahmad Tejan Kabbah in einer feierlichen Zeremonie den Bürgerkrieg für beendet (siehe auch: United Nations Mission in Sierra Leone).
Der SCSL ist ein internationales Gericht, das nach seinem Statut aber nicht nur Verstöße gegen internationales Recht, sondern auch bestimmte Verstöße gegen nationales Recht verfolgen kann, und ist damit das erste seiner Art.
Inhaltsverzeichnis |
[Bearbeiten] Mandat
Der SCSL ist zuständig für die strafrechtliche Verfolgung der Hauptverantwortlichen für schwere Verbrechen, die nach dem 30. November 1996 auf Sierra Leones Territorium begangen wurden – auch wenn der Bürgerkrieg der liberianisch unterstützten Revolutionary United Front gegen die wechselnden Regierungen Sierra Leones (beginnend während der Präsidentschaft Joseph Saidu Momohs) und Milizen bereits Anfang der 1990er begonnen hatte.
Im Einzelnen erstreckt sich die Zuständigkeit des Strafgerichtshofs auf die strafrechtliche Verfolgung von
- Verbrechen gegen die Menschlichkeit,
- Verletzungen vom gemeinsamen Artikel 3 der Genfer Konventionen Genfer Abkommenund Zusatzprotokoll II [Zusatz Protokoll II],
- anderen schweren Verletzungen des humanitären Völkerrechts:
- Rekrutierung von Kindern unter 15 Jahren für bewaffnete Gruppen (Kindersoldaten),
- vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung,
- vorsätzliche Angriffe auf UN-Soldaten, -Personal oder -Einrichtungen
nach internationalem Recht sowie auf die Verfolgung
- des Missbrauchs von Mädchen unter 15 Jahren,
- der Verschleppung von Mädchen zur sexuellen Ausbeutung und
- der Brandstiftung an Gebäuden
nach nationalem Recht. Er kann lediglich Einzelpersonen, nicht aber Organisationen oder Regierungen anklagen und aburteilen. Prozesse können nur gegen persönlich Anwesende eröffnet werden, Angeklagte haben als Höchststrafe lebenslange Freiheitsstrafe zu erwarten. Der Strafvollzug erfolgt in Sierra Leone, kann aber, wenn besondere Umstände vorliegen, auch in einem anderen Staat erfolgen. So wurde im Fall des aus Sicherheitsgründen nach Den Haag verlegten Prozesses gegen den als Kriegsherr geltenden Liberianer Charles Taylor bereits im Vorfeld der Verlegung vereinbart, dass dieser bei einer Verurteilung seine Strafe in Großbritannien verbüßen wird.
Im Gegensatz zu den beiden UN-Tribunalen, dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag und dem Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda in Arusha, die aus dem allgemeinen Budget der Vereinten Nationen finanziert werden, finanziert sich der SCSL aus freiwilligen Beiträgen von UN-Mitgliedstaaten.
[Bearbeiten] Organisationsaufbau
Der Sondergerichtshof besteht aus der Gerichtsverwaltung, einer Anklagebehörde, dem Büro des Chefverteidigers sowie den Spruchkammern.
Der Anklagebehörde steht ein unabhängig arbeitender Chefankläger vor. Ernannt wird dieser vom UN-Generalsekretär. Derzeitiger Chefankläger ist der Brite Desmond de Silva. Anklageschriften müssen von einem der Richter geprüft und bestätigt sein bevor sie wirksam werden.
Dem Sondergerichtshof gehören mindestens acht Richter an. Drei Richter – davon einer von der Regierung Sierra Leones, zwei vom UN-Generalsekretär ernannt – bilden die Kammer der ersten Instanz, fünf – davon zwei von der Regierung Sierra Leones, drei vom UN-Generalsekretär ernannt – die Berufungskammer. Sie wählen aus ihren Reihen jeweils einen Vorsitzenden Richter, wobei der Vorsitzende Richter der Berufungskammer zugleich auch Präsident des Sondergerichtshofes ist.
Die Ernennung der Richter erfolgt für jeweils drei Jahre und kann erneuert werden. Auf Anforderung des Präsidenten des Sondergerichtshofes können bis zu drei weitere Richter ernannt werden, die im vorprozessualen Stadium oder als Ersatzrichter zum Einsatz kommen.
[Bearbeiten] Die Angeklagten
Es liegen bisher Anklageschriften gegen insgesamt 13 Verdächtigte vor, wobei die gegen RUF-Führer Foday Sankoh und seinen Stellvertreter Sam Bockarie aufgrund deren Tod im Dezember 2003 fallengelassen wurden.
Neben Charles Taylor, Liberias vormaligem Präsidenten, der als Drahtzieher gilt und dessen Prozess in Räumlichkeiten des Internationalen Strafgerichtshof stattfinden wird, müssen sich in drei weiteren Prozessen führende Vertreter aller drei Bürgerkriegsparteien vor dem SCSL verantworten: im am 3. Juni 2004 eröffneten Prozess Civil Defence Forces der ehemalige Innenminister Sam Hinga Norman sowie Moinina Fofana und Allieu Kondewa, im am 5. Juni 2004 eröffneten Prozess Revolutionary United Front Issa Sesay, Morris Kallon und Augustine Gbao und im am 7. März 2005 eröffneten Prozess Armed Forces Revolutionary Council Alex Tamba Brima, Brima Bazzy Kamara und Santigie Borbor Kanu. Lediglich Johnny Paul Koroma, Anführer des AFRC, konnte dem SCSL bisher nicht zugeführt werden – es gilt als unsicher, ob er als flüchtig oder als tot zu gelten hat.
[Bearbeiten] Weblinks
- Offizielle Webpräsenz des SCSL (englisch)
- Übersicht zu den Sondergerichtshöfen für Sierra Leone und Kambodscha des Auswärtigen Amts
- Andrea Böhm: Sierra Leone als gutes Beispiel Kurzinfo zum SCSL in der Zeit 15/2006
- Michel Arseneault: Versöhnung vor Recht in Sierra Leone Artikel in der Le Monde diplomatique vom 14. Oktober 2005
- Informationen zu Johnny Paul Koroma und anderen SCSL-Angeklagten beim Schweizerischen Verein TRIAL